Das BIP ist kein Maß für Einkommen: Zwischen der Finanzkrise 2008 und dem Jahr 2019 ist in Österreich das BIP pro Kopf zwar um 5 % gestiegen, die verfügbaren Einkommen sind aber sogar gesunken. Was ist mit der Differenz passiert?
Die Frage nach der Differenz zwischen BIP und Einkommen ist auch politisch relevant: Manche Antworten auf Wirtschaftskrisen führen kurzfristig zu mehr Produktion und damit zu höheren BIP, ohne aber damit unser Einkommen, geschweige denn unsere Lebensqualität zu erhöhen. Zudem ist die Verwendung des BIP statt des Einkommens vielfach höchst irreführend. Zum Beispiel, wenn die Steuerbelastung im Verhältnis des BIP gemessen wird, obwohl Steuern ja aus dem Einkommen bezahlt werden müssen.
Das Bruttoinlandsprodukt
Das BIP ist der berühmteste Indikator aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR). Die VGR als gesamtes misst einen Teil der Produktion einer Volkswirtschaft, die Einkommen, welche aus diesen Produktionsaktivitäten generiert werden, die Umverteilung der Einkommen zwischen Unternehmen, Haushalten und Staat, so wie die Verwendung des verfügbaren Einkommens für Konsum und Sparen. Wenn man genau hinsieht, wird es völlig unklar, was das BIP genau misst – aber irgendwas zwischen Produktion und Einkommen.
Das BIP enthält jedenfalls einige Komponenten, welche in einem Einkommensmaß nicht enthalten sein sollten. Darunter die Abschreibungen, Steuern auf Produkte, und Einkommen die an das Ausland gezahlt werden. Umgekehrt sollten Einkommen und Transferzahlungen aus dem Ausland in das Einkommen integriert werden, obwohl sie im BIP nicht enthalten sind.
Komponenten des BIP, die kein Teil des Einkommens sind
Abschreibungen:
Bei den Abschreibungen in der VGR handelt es um Produktionsaktivitäten, die für den Erhalt des Kapitalstocks notwendig sind, wie z.B. Erhaltung und Ersatz von Gebäuden oder Maschinen. Da es sich dabei um einen Teil der Produktionskosten handelt, sollten Abschreibungen im Einkommen nicht inkludiert werden (siehe auch Eurostat, ESVG 2010). In Österreich entsprechen die Abschreibungen etwa 18% des gesamten BIP. Sie stehen übrigens für das „Brutto“ im BIP: Zieht man die Abschreibungen vom BIP ab, erhält man das Nettoinlandsprodukt
Gütersteuern:
Das BIP wird durch eine Doppelzählung der Gütersteuern aufgebläht. Man hat in der VGR entschieden, den Konsum inklusive der Steuern auf Güter (wie die MwSt) zu messen. Das heißt, diese werden im Endverbrauch erfasst und nicht als Transferleistung von Konsumenten/Produzenten zum Staat. Gleichzeitig sollten aber die staatlichen Leistungen, welche durch diese Steuern finanziert werden, ebenfalls im BIP auftauchen. Daher werden Produktsteuern einfach beim Staatssektor noch einmal dazu addiert und im Grunde doppelt erfasst. Vor allem wenn man Umverteilung und Einkommen nach Sektor abbilden will, ist es ratsam, die Gütersteuern einmal abzuziehen – immerhin 11 Prozent des BIP. Werden die Gütersteuern und Abschreibungen vom BIP abgezogen, erhält man die Netto-Wertschöpfung.
Einkommen an das/aus dem Ausland:
Die Produktion und Wertschöpfung ist im Unternehmens- und Haushaltssektor konzentriert, wird aber in Form von Arbeits- und Vermögenseinkommen zwischen den Sektoren umverteilt. Wobei die Arbeitseinkommen von Unternehmen an Haushalte die wichtigste Einkommenskomponente ist. Einkommen werden auch an im Ausland ansässige Personen bezahlt, was im Gesamteinkommen der Volkswirtschaft berücksichtigt werden muss. Es werden aber umgekehrt auch Einkommen aus der Produktion anderer Länder bezogen (Löhne von Grenzgängern, Vermögenseinkommen aus Kapitalbesitz im Ausland) welche zum Einkommen addiert werden. In Österreich sind diese Komponenten eher klein, spielen aber in Irland (Einkommen an die Eigentümer multinationaler Konzerne) und Luxemburg (viele Grenzpendler) eine maßgebliche Rolle.
Addiert man die Einkommen aus dem Ausland und zieht man die Einkommen an das Ausland von der Wertschöpfung ab, erhält man das Netto-Nationaleinkommen als zentrales Einkommensmaß der VGR. Es entspricht ca. 70 Prozent des BIP.
Steuern und Sozialleistungen:
Für die Einkommen einzelner Haushalte und Unternehmen spielt natürlich die Umverteilung durch den Staat eine große Rolle. Über 50% der Primäreinkommen der Haushalte werden durch den Staat umverteilt, wenn man auch die Konsumsteuern berücksichtigt. Klarerweise wird ein Teil der Abgaben über Sozialleistungen wieder an den Haushaltssektor ausbezahlt, wenn auch nicht an dieselben Haushalte. Aber auch mit den Sozialleistungen entspricht das verfügbare Einkommen des Haushaltssektors weniger als 50% des BIP. Je nach Fragestellung kann man auch staatliche Sachleistungen (wie Gesundheit) im Einkommensmaß berücksichtigen. Klar ist, es besteht ein großer Spielraum zwischen der Entwicklung des BIP und der Entwicklung der Haushaltseinkommen.
Veränderungen zwischen 2008 und 2019
Wie haben sich das BIP und Einkommen zwischen 2008 und 2019 verändert? Das BIP pro Kopf war 2019 gerade mal um 5% höher als 2008. Allerdings waren auch die Abschreibungen um 2.5 Prozentpunkte höher und die Gütersteuern um 0.5 Prozentpunkte. Das Nettonationaleinkommen pro Kopf lag 2019 nur um 1.5 Prozentpunkte über dem Wert von 2008. Die verfügbaren Einkommen der Haushalte lagen sogar unter dem Niveau von 2008, da die Steuerbelastung gestiegen ist. Für höhere Steuern braucht es nicht unbedingt eine Änderung der Steuersätze. Aufgrund der kalten Progression, und der Verschiebung von Sparen zu Konsum, kann die Steuerleistung auch ohne Änderung der Sätze steigen.
Gesamtökonomie | Euro pro Kopf | Prozent des BIP | Veränderung 2008-2019 in % des BIP |
Bruttoinlandsprodukt | 43,302 | 100 | 4.8 |
– Abschreibungen | 7,921 | 18 | 2.5 |
– Produktsteuern | 4,598 | 11 | 0.5 |
+ Einkommen aus dem Ausland | 162 | 0 | -0.2 |
= Nettonationaleinkommen / Primäreinkommen | 30,946 | 71 | 1.5 |
Haushaltssektor | |||
Primäreinkommen | 27,512 | 64 | 0.5 |
– Steuerleistung | 14,917 | 34 | 2.0 |
+ Sozialleistungen | 7,356 | 17 | 1.0 |
= Verfügbares Einkommen | 19,951 | 46 | -0.4 |
Das BIP – kein politikrelevanter Indikator
Das BIP ist kein brauchbarer Indikator, um Politik daran auszurichten. Obige Zahlen sind zwar mit Vorsicht zu genießen. Die Abschreibungen kann man nicht direkt messen, sondern sie werden über ein Modell geschätzt. Dennoch kann man sagen, dass die nächste Krise schneller war als die Erholung nach der Finanz- und Staatschuldenkrise. Ein Grund dafür sind auch die politischen Antworten auf Krisen, die in diesen Zahlen abgebildet werden: Die Subvention und Förderung von Investitionen (z.B. durch Geldpolitik) blähen das BIP auf, ohne notwendigerweise unsere Einkommen zu erhöhen. Denn Kosten von Investitionen tauchen im BIP immer auf, egal ob sie schlussendlich rentabel sind und das Einkommen erhöhen oder nicht. Und Investitionen führen zu einem Anstieg der Abschreibungen, welche ebenfalls im BIP auftauchen, aber ebenfalls nicht unser Einkommen erhöhen. Mit der Subvention von investitionen wird ein kurzfristiger Anstieg des BIP mit langfristigen Wohlstandseinbußen erkauft.
Viele BIP-basierte Indikatoren sind völlig nichtssagend, zum Beispiel die Steuerquote – Steuern im Verhältnis des BIP. Steuern müssen aus dem Einkommen bezahlt werden, Abschreibungen können langfristig dafür nicht verwendet werden, Gütersteuern auch nicht, und an das Ausland gezahlte Einkommen ganz offensichtlich auch nicht. Daher sollten Steuern mit dem Einkommen in Verhältnis gesetzt werden, und nicht mit dem BIP. Abbildung 2 zeigt die Steuerquote im Verhältnis zum BIP und die Steuerbelastung der Haushalte im Verhältnis zum Einkommen. In fast alle Europäischen Ländern werden zwischen 50 und 60 Prozent des Einkommens durch den Staat umverteilt. Selbst in Irland, mit einer sehr niedrigen Steuerquote im Verhältnis zum BIP, beträgt die Steuerbelastung über 50% der Einkommen. Steuern im Verhältnis des BIP zu messen ist höchst irreführend, da ein großer Teil des BIP nicht zum Zahlen von Steuern verwendet werden kann, bzw. sogar aus Steuern besteht.
Das BIP ist eine Art eierlegende Wollmilchsau der Wirtschaftsstatistik – und wird für Zwecke verwendet, für die es nicht geeignet ist. Ein wesentlicher Grund ist, dass sich selbst Ökonomen und Wirtschaftsstatistiker kaum damit beschäftigen, wie es konstruiert wird, und welche Aspekte der Wirtschaft es tatsächlich abbilden kann. Für viel Zwecke ist es bereits eine wesentliche Verbesserung, Einkommen statt dem BIP zu nehmen: Z.B. bei der Berechnung der Steuerquote oder beim Messen der Auswirkung von Wirtschaftskrisen.